Versöhnung im Land der Verbannung

Die sibirische Seele erzählt nicht nur von der Zwangsumsiedlung der Wolgadeutschen, sondern auch die Geschichte, wie Deutsche und Russen am Baikalsee wieder zueinander gefunden haben.

Bildlizenz: Foto »Lake Baikal« von Sergey Gabdurakhmanov / CC BY 2.0 / Foto beschnitten.

Vor 300 Jahren erkundeten deutsche Forscher die Weiten hinter dem Ural: Sibirien. Ein Land von unendlicher Schönheit. Doch auch ein Begriff für Kälte und Zwangsarbeit. Fern im Osten, am tiefsten See der Welt, spielte eine Geschichte der Versöhnung – erst vor wenigen Jahren. Was kann den Kriegen in aller Welt ein Ende setzen? Hier kommt ein Beispiel, aus dem sich schöpfen lässt.

Die deutsch-russischen Beziehungen reichen weit zurück. Zar Peter der Große (1672 bis 1725) suchte regelmäßig die Nemezkaja sloboda auf, ein Ausländerquartier vor Moskau. Hier lebten vor allem Deutsche – und hier fand er seine erste Geliebte: Anna Mons. Später verlegte der Herrscher die russische Hauptstadt an die Ostsee. Zehntausende Zwangsarbeiter errichteten Sankt Petersburg auf Sumpfgebiet. Vor seinem Tod gründete Peter an diesem Ort die Russische Akademie der Wissenschaften. Zu ihrem ersten Präsidenten bestimmte er seinen Leibarzt Laurentius Blumentrost. Muttersprache der meisten an die Akademie berufenen Wissenschaftler war Deutsch.

Zu ihnen zählte auch Johann Georg Gmelin, geboren in der schwäbischen Universitätsstadt Tübingen. Mit 21 Jahren wurde er zum Professor für Chemie und Naturgeschichte ernannt – an der Akademie der Wissenschaften in Russland. Zwei Jahre später, 1731, reiste er im Auftrag der Zarin und zusammen mit dem Historiker Gerhard Friedrich Müller Richtung Sibirien. In den folgenden zehn Jahren erforschte er den asiatischen Landesteil Russlands: seine Geographie, Tier- und Pflanzenwelt, Bodenschätze, die lokale Wirtschaft und die Lebensweise der Einheimischen.

Im Fernen Osten durchwanderte Gmelin die Wälder der Dahurischen Lärche. Zu seinen Ehren nennen die Botaniker diesen Baum Larix gmelinii. Das Gehölz ist bis hinauf zum Nördlichen Eismeer verbreitet, übersteht Temperaturen von minus 70 Grad Celsius. Im Süden erreicht es die Ufer des Baikalsees. Hier stand Gmelin im Jahr 1735. Die Gegend ist ein eigener Kosmos: Sie beheimatet die einzige Süßwasserrobbe der Welt. Die meisten Seebewohner trifft man nirgendwo sonst – der Baikal gehört zu den ältesten Seen auf der Erde. Im Mittel ist er 50 Kilometer breit und grob 650 Kilometer lang, also einmal Luftlinie München – Rostock. Den größten See Österreichs und Deutschlands, den Bodensee, könnte man ausleeren und 500 Mal wiederbefüllen – allein mit dem Wasser aus dem Baikal.

Bildlizenz: Foto »Nerpa (Pusa sibirica)« von Sergey Gabdurakhmanov / CC BY 2.0.

Wir sprechen vom reichsten Süßwassersee der Welt. An den Wassermassen aus allen Flüssen der Erde und allen nicht salzigen Seen hält der Baikal mehr als ein Fünftel. Mit 1642 Metern ist er der tiefste See überhaupt. Und dennoch ragen 27 Inseln aus seinen Wassern. Eine von ihnen trägt den Namen Olchon. Um die Fischproduktion auszuweiten, wurde hier 1938 die Siedlung Chuschir gegründet. Wenig später zogen über 200 Männer in den fernen Krieg. Nach dem Sieg über Hitlerdeutschland kehrte weniger als die Hälfte von ihnen lebend in die junge Ortschaft zurück. Ende der 1990er, als die Sowjetunion zusammengebrochen war, bot sich folgendes Bild: Ein Dorf mit 1000 Erwachsenen und 200 Kindern. Strom aus der Steckdose – das gab es nur gelegentlich, und niemand brauchte einen Gedanken an ein Handy zu verschwenden. Fließendes Wasser aus der Leitung? Unbekannt.

Die Filmemacher Susanne Becker und Bernd Reufels wählten diesen Platz für ein Experiment aus – im Auftrag des ZDF. Zwei deutsche Familien sollten nach Chuschir umsiedeln. Auf jede wartete ein Holzhäuschen mit Gemüsegarten und Vieh. Für das Wagnis existierte kein Drehbuch. Das Leben selbst würde die Geschichte schreiben, beobachtet von der Kamera, festgehalten in dem Film »Sternflüstern«. Von flüsternden Sternen spricht man dort auf Olchon, wenn der Atem zu Eis gefriert und leise klingend zu Boden fällt. Doch so kalt empfing die Familien ihre neue Heimat nicht.

Mit wenig Gepäck erreichen die Abenteurer die Insel zu Schiff. Anfang September 2003 geht es an Land. Die Deutschen erwartet der ausklingende Sommer. Familie Möchel findet endlich ihr Zuhause. Vor der Holzhütte entfaltet sich ein herrliches Seepanorama. Die Meteorologin Ljudmila will gleich ihre deutschen Nachbarn kennenlernen – die sprechen keinen Brocken Russisch. Für die Kinder ist das nicht weiter schlimm. Die vier Töchter schließen bald Freundschaft mit Ljudmilas Sohn Aljoscha. Seine Mutter zeigt den Bayern, wie die Kuh gemolken wird. Außerdem müssen sie lernen, den Ofen zu feuern, um etwas Warmes auf den Teller zu bekommen. Die Familie begreift, was es bedeutet, wenn das Überleben vom eigenen Garten, von kreativen Einfällen und guten Freunden abhängt.

Aljoscha wirkt nachdenklich. Der Vater soll ein Trinker gewesen sein; für seinen Sohn konnte er wenig tun. Erst vor Wochen verließ er Frau und Kind, um mit einer anderen zu leben. Bei Herrn Möchel reift ein Plan: Am Ufer liegt ein kaputtes Motorboot. Er treibt im Dorf Wachstuch auf, bei Nikita fragt er nach Scharnieren, Drahtseil und Holz. Etwas Deutsch und Englisch spricht dieser blondhaarige Geschäftsmann. Nikitas unternehmerischer Verstand schaltet schnell, als er erfährt, dass Herr Möchel Schreiner von Beruf ist. Er bietet ihm an, beim Bau der orthodoxen Kirche zu helfen, um das Material abzubezahlen. Und schon steht der Familienvater aus Bayern hoch oben auf dem Dach. Unangeseilt streicht er mit Helfern die Kirchenkuppeln blau.

Es sind die letzten milden Tage des Jahres, als das Segelboot fertig wird. Aljoscha verlässt der Mut. Schon so viele Fischer wurden auf dem Baikal von Stürmen überrascht, sind gekentert und ertrunken. Doch er nimmt sich ein Herz und fährt mit dem Deutschen hinaus aufs Wasser. Aljoscha beginnt, auf dem Boot zu tanzen; der Wind bringt die beiden zu neuen Ufern.

Der russische Winter kommt unerwartet, auch für Familie Klapproth aus dem Harz. Anfang Oktober fallen über Nacht 15 Zentimeter Schnee. Tochter Jenny begutachtet die Wäsche auf der Leine: steifgefroren. Von nun an überlegt sich jeder zweimal, ob er vors Haus tritt. Daran führt kein Weg vorbei. Die Kuh brüllt, weil das Euter drückt, oder umgekehrt: Die Blase meldet, dass es Zeit wäre, das Plumpsklo aufzusuchen. Trinkwasser schöpfen die Menschen immerzu aus dem Baikal. Der Herd ist die einzige Wärmequelle im Haus. Wenn es am Holz mangelt und das Feuer nachts erlischt, muss der Frühstücksbrei aus Eisplatten gekocht werden. Der See jedenfalls ist rein: Die Sichtweite unter Wasser soll bis zu 40 Meter betragen. Friert der Baikal zu, bilden sich wunderschöne Mosaikmuster.

Bildlizenz: Foto »Baikal« von Sergey Pesterev / CC BY-SA 2.0 / Foto beschnitten.

Das Leben auf Olchon verändert die Familien wie auch die Menschen, die nicht auf der Leinwand in Erscheinung treten. Der Kameramann vom ZDF kommt auf neue Gedanken: »Es gibt keinen Fernseher, es gibt kein Telefon. Und das alles lässt einen ganz allmählich ruhig werden.« Selbst bei den Einheimischen tut sich etwas. Klapproths wohnen mitten im Dorf. Ihre Nachbarn heißen Michail und Maria. Der Kontakt war freundlich, aber anfangs von Zurückhaltung geprägt. Tochter Jenny machte sich nichts daraus. Sie lief oft zu den beiden betagten Russen. Mit der Zeit entstand ein Austausch zum gegenseitigen Nutzen.

Beim gemeinsamen Abendessen bricht bei Michail das Eis. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 ließen Abermillionen Russen ihr Leben. Im selben Jahr wurde die Wolgadeutsche Republik in Sowjetrussland aufgelöst. Hunderttausende Russlanddeutsche wurden zwangsumgesiedelt, viele davon nach Sibirien. Michail war sechs Jahre alt, als sein Vater im Krieg gegen die Deutschen starb. Das hatte ihn geprägt. Klapproths verstehen kein Russisch, doch nun sagt Michail: »Uns ist es schlecht gegangen und euch ist es schlecht gegangen; lassen wir das Vergangene Geschichte sein.«

Beim Abschied im Januar 2004 fließen viele Tränen. Michail hätte seine junge Nachbarin gern für immer behalten. Vater René sei für ihn wie ein Sohn gewesen, Mutter Kerstin wie eine Tochter und Jenny wie eine Enkelin. Der Film »Sternflüstern« wurde in den folgenden Wochen in Etappen im Zweiten Deutschen Fernsehen gezeigt, erreichte ein Millionenpublikum. Heute würde er neue Aufmerksamkeit verdienen.

Das Verbindende entzieht den Konflikten den Boden. Am fernen Baikal in Sibirien zeigt sich: Auch zwei verfeindete Völker können die Gräben zwischen einander überwinden, gemeinsam Herausforderungen angehen und sich eine Hilfe sein. Und vielleicht, vielleicht könnten sie auch miteinander über eine gute Zukunft nachdenken und beginnen, sie zu erschaffen. Zumindest könnten sie darüber Lieder schreiben oder einfach zusammen musizieren, wie es die Menschen am Baikalsee im Winter mit gefrorenen Eisplatten tun.

Dieser Text von Hakon von Holst erschien in der Serie »Russlands Schätze« auf Manova. Weiterführendes zum Thema:

(1) DVD »Sternflüstern – Das Sibirien-Abenteuer«. Laufzeit 174 Minuten, Erstausstrahlung 2004. EAN 4028032065206.

(2) Susanne Dieterich: Württemberg und Russland. Geschichte einer Beziehung. Leinfelden-Echterdingen: DRW-Verlag 1994. ISBN 978-3-87181-243-9.

(3) Johann Georg Gmelin: Reise durch Sibirien. Göttingen: Abraham Vandenhoeck 1751/1752. Insgesamt vier Bände. In digitaler Form hier: https://vital.lib.tsu.ru/vital/access/manager/Repository?f0=sm_creator%3A%22Gmelin%2C+Johann+Georg%22

(4) Gerhard Friedrich Müller (Reisegefährte Gmelins): Sammlung Rußischer Geschichte. Erster Theil. Offenbach am Main: Ulrich Weiß 1777. Insgesamt neun Bände. In digitaler Form hier: https://www.digitale-sammlungen.de/de/search?query=%28%22Sammlung+Ru%C3%9Fischer+Geschichte%22%29

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