Das Recht des Stärkeren

Was ist Freiheit, was bedeutet Gemeinwohl? Die in unserer Gesellschaft verbreiteten Vorstellungen scheinen Gegensätze darzustellen. Wir überprüfen sie, indem wir größere Zeiträume der menschlichen Existenz anschauen und in einen anderen Teil der Welt reisen: in einen finsteren Wald, den Lebensraum zweier Völker. Möge das Licht ins Dunkel bringen!

Freiheit?

In einem fernen Staat ziehen sich 350.000 Hektar Wald bis zum Horizont. Jeder Bürger kann Forstflächen erwerben, soviel er will. Zumindest sofern er Geld besitzt und solange sich ein Verkäufer findet. Die Bevölkerung ist überzeugt, in einem freien Land zu leben, denn jeder ist frei darin, Wald zu kaufen oder zu verkaufen. Außerdem braucht niemand eine Grundsteuer zu leisten und der Staat garantiert für das Eigentum.

Gemeinwohl?

Angrenzend liegt eine Republik mit ganz anderen Vorstellungen und Wertigkeiten. Die Einwohner in diesem jungen Staat kennen die Geschichte ihres Nachbarlands nur zur Genüge:

Im Jahr 1286 wurden die 350.000 Hektar Wald gerecht unter allen Bewohnern aufgeteilt. Doch nach kurzer Zeit gehörte einem kleinen Anteil unter den Menschen der überwiegende Teil des Forstgebiets. Das war dem geschuldet, dass manche Leute Schulden hatten oder einfach auf frisches Geld angewiesen waren, lag aber auch daran, dass in der Regel der Erstgeborene Grund und Boden erbte.

Über den Freiheitsbegriff in dem Land mit den 350.000 Hektar Wald schüttelten die Menschen in der jungen Republik nur den Kopf. Warum soll das ein freies Leben darstellen? Und mit ihrer Kritik hatten sie nicht Unrecht:

Das Leben in den ersten Jahren nach 1286 kann man als frei bezeichnen, denn der Ausgangspunkt war für alle gleich. Ein jeder konnte aus seinem Glück machen, was ihm beliebte, nur waren nicht alle Menschen mit denselben Gaben ausgestattet. Schon die zweite Generation Menschen sah sich elender Ungerechtigkeit ausgesetzt: Wenn der Vater aus Geldnot oder Leichtsinn den Wald verkauft hatte, blieb den Kindern nichts. Andere erbten ausgedehnte Flächen.

Ist es Freiheit, wenn man nirgends zuhause sein darf? Wenn man den Wohlhabenden erst für Jahre zu Diensten stehen muss, bis die Chance besteht, sich bei ihnen vom Ersparten ein Stück Wald zu kaufen? Aber schauen wir einmal, was den Menschen in der jungen Republik eingefallen ist, wie jeder Bürger zu seinem Recht kommt:

In unserem Land gibt es keinen Privatwald. Alles gehört dem Staat. Die Behörden teilen die Flächen nach einer gerechten Formel zu – so geht niemand leer aus. Für die Nutzung der Waldstücke zahlt der Bürger eine Steuer. Von diesem Geld werden Projekte finanziert, die allen zugute kommen.

Ehrlicherweise hätte man erwähnen müssen, dass es einen enormen Verwaltungs- und Kontrollapparat gibt. Von ihm werden die Einnahmen aus der Waldnutzung gänzlich verzehrt.

Die Praxis in der jungen Republik wirft die Frage auf, warum sich ein Mensch dafür rechtfertigen muss, auf der Welt zu sein. Es gibt keinen Ort, an dem er in Ruhe gelassen wird. Jeder ist von einer Instanz gezwungen, arbeiten zu gehen, um die Grundsteuer bezahlen zu können. Und das für ein Leben an dem Ort, wo er zur Welt gekommen ist.

Frei und gerecht

Wie man über die beiden Beispiele aus den fernen Ländern resümiert, merkt man, dass weder in dem einen noch dem anderen Staat Gemeinwohl und Freiheit herrschen. Ein herangewachsener Erdenbürger muss entweder an die Behörden oder einen privaten Verpächter Geld leisten, wenn er sich irgendwo niederlassen möchte. Wenn es für einen Menschen keinen Raum gibt, an dem er bedingungslos sein darf, ist das weder sozial noch frei.

In den beiden vorgestellten Staaten herrscht das Recht des Stärkeren. Einmal steuern Großgrundbesitzer das Leben, ein anderes Mal maßt sich eine allumfassende Instanz an, über Gedeih und Verderb zu entscheiden.

Aber ginge es nicht auch frei und gerecht zugleich? Ja, ein solches Beispiel gibt es – in einem anderen Erdteil:

Jeder Mensch hat hier von Geburt an Anspruch auf ein Waldstück in bestimmter Größe. Er muss niemand Geld dafür bezahlen. Die Fläche darf an einen anderen Bürger vererbt werden. Wer ein solches Erbe antritt, gibt seinen eigenen Grund der Allgemeinheit zurück. Kein Bewohner besitzt mehr als der andere.

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